Friedensnobelpreis 1951: Léon Jouhaux

Friedensnobelpreis 1951: Léon Jouhaux
Friedensnobelpreis 1951: Léon Jouhaux
 
Der Arbeitersohn erhielt den Preis für seinen jahrzehntelangen Kampf um die Rechte der Arbeiterschaft und für seine herausragende Rolle innerhalb der gewerkschaftlichen Friedensbewegung.
 
 
Léon Jouhaux, * Paris 1. 7. 1879, ✝ ebenda 29. 4. 1954; 1909-47 Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds CGT, 1919 Teilnehmer der Pariser Friedenskonferenz und Mitbegründer der ILO sowie Wahl zum ersten Vizepräsidenten des IGB, 1941-45 Internierung in Deutschland, 1948-54 Präsident der Gewerkschaft CGT-Force Ouvrière, ab 1949 Vorsitzender des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG).
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Sichere Arbeitsbedingungen, von den Tarifpartnern ausgehandelte, angemessene Löhne, die 40-Stunden-Woche, das Recht auf bezahlten Urlaub, Mitbestimmung in den Betrieben, soziale Absicherung gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie eine verlässliche Altersversorgung — davon waren die lohnabhängigen Erwerbstätigen in den Ländern Europas gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch weit entfernt. Die heute fast selbstverständlichen Errungenschaften wurden erst in einem langen Kampf von den in diesem und im folgenden Jahrhundert gegründeten Gewerkschaften erzielt.
 
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kam es überall in Europa noch häufig vor, dass die Kinder von Arbeiterfamilien ihre Schulausbildung nicht abschließen konnten und schon früh zum Lebensunterhalt der Familien beizutragen hatten. So auch der Franzose Léon Jouhaux, der etwa ab seinem elften Lebensjahr immer wieder Aushilfsarbeiten in Fabriken übernehmen musste und deshalb nicht regelmäßig zur Schule gehen konnte. Seine Familie wehrte sich traditionell gegen die sozialen Missstände — Léons Großvater hatte während der Revolution von 1848/49 für das Recht auf Arbeit gekämpft und sein Vater war 1871 Mitglied der Pariser Commune, eines revolutionären Gemeinderates, gewesen — doch wer offen rebellierte, musste damit rechnen, dass er seinen Arbeitsplatz verlor.
 
Léons Vater, der in einer Zündholzfabrik beschäftigt war, schloss sich einem Streik an, der sich gegen die Verwendung von weißem Phosphor in der Produktion richtete. Die extrem giftige Substanz schädigt unter anderem die Augen und führt so früher oder später zur Erblindung. Der Vater wurde entlassen, doch erwies sich sein Protest in geradezu tragischer Weise als berechtigt: Einige Jahre später verlor er sein Augenlicht. Sein Sohn, der in derselben Fabrik arbeitete, zu der Zeit jedoch seinen Militärdienst in Algerien leistete, kehrte nach Frankreich zurück, um neue Streiks gegen die Verwendung von weißem Phosphor zu organisieren, woraufhin man ihm prompt kündigte. Erst nach sechs Jahren erhielt er auf Druck des Gewerkschaftsverbands CGT (Confédération Générale du Travail) seinen Arbeitsplatz zurück.
 
 Der »General« der Arbeiterschaft
 
Den Aufstieg zur über Jahrzehnte hinweg führenden Arbeitnehmerorganisation Frankreichs hat die 1895 in Limoges gegründete CGT in erster Linie Léon Jouhaux zu verdanken. Ab 1906 war er innerhalb des Gewerkschaftsverbands Vertreter der in der Zündholzindustrie beschäftigten Arbeitnehmer. 1909 wurde er zum Generalsekretär der Organisation gewählt, eine Position, die er fast 40 Jahre innehatte. Léon Jouhaux, ein Energiebündel mit Durchsetzungskraft, eben »der General«, wie man ihn nannte, führte die CGT über zwei Generationen. Er erzielte große Erfolge, etwa 1936, als den französischen Arbeitern erstmals die 40-Stunden-Woche und bezahlter Urlaub zugestanden wurde. Er erlebte aber auch schwere Zeiten wie die Weltwirtschaftskrise oder das Verbot des Gewerkschaftsverbands während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Frankreich. Damals wurde er als Generalsekretär des Verbands zunächst unter Hausarrest gestellt und dann bis zum Kriegsende in deutschen Konzentrationslagern eingesperrt.
 
Für manche Krisen in ihrer langen Geschichte hatte die Confédération Générale du Travail allerdings selbst die Verantwortung zu tragen. Der Bund war anfangs eine Arbeitnehmervereinigung, in der sich Kommunisten und Marxisten zusammengeschlossen hatten. Im Lauf der Zeit kamen auch Sozialdemokraten und Sozialisten wie Léon Jouhaux hinzu, was zu Richtungskämpfen führte. Mehrmals stand die CGT kurz vor der Spaltung, und nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich die Gegensätze zwischen den westlichen Demokratien und der Sowjetunion verschärften, brach sie auseinander. Jouhaux gründete 1947/48 die sozialistisch orientierte Confédération Générale du Travail Force Ouvrière (CGTFO), die seither als Konkurrent der CGT auftritt und vor allem unter den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst und in den Büroberufen zahlreiche Mitglieder gewonnen hat. In jüngster Zeit arbeiten die beiden Gewerkschaftsverbände wieder verstärkt zusammen; eine Vereinigung gilt nicht mehr als ausgeschlossen.
 
Schon bald nach seiner Wahl zum Generalsekretär der CGTFO bemühte sich Jouhaux um die Zusammenarbeit der nationalen Gewerkschaften über die Landesgrenzen hinweg. Beschränkten sich seine Bemühungen vor dem Ersten Weltkrieg auf gelegentliche Treffen mit Genossen aus anderen europäischen Ländern, so erweiterte sich sein Tätigkeits- und Einflussbereich nach Kriegsende. Er war Mitbegründer der zusammen mit dem Völkerbund geschaffenen International Labour Organization (ILO) und Vizepräsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB). 1949 wurde er Präsident des als Gegenstück zum kommunistisch geprägten Weltgewerkschaftsverband (WGB) gegründeten Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG).
 
 Gegen den Krieg
 
So erfolgreich Jouhaux auch auf nationaler und internationaler Ebene die Interessen der Arbeiterschaft vertrat, sah er sich nicht nur als Interessenvertreter. Dem Gewerkschaftsführer ging es vielmehr darum, durch die Verbesserung der sozialen Verhältnisse ein Klima zu schaffen, in dem Kriege nicht mehr möglich waren und in dem sich ein »Mensch der Zukunft« entwickelte, der alle Konflikte auf friedliche Weise lösen konnte. »Contre la guerre« (französisch; Gegen den Krieg) ist deshalb auch der Titel seines vielleicht bedeutendsten Buches, das schon 1913 erschien. Das Osloer Nobelpreiskomitee würdigte mit dem Nobelpreis vor allem diese Seite seiner Arbeit — selbst wenn rückblickend betrachtet der Kämpfer für den Frieden weitaus weniger erfolgreich war als der Kämpfer für die Rechte der Arbeiter.
 
Erfolglos blieben seine nahezu verzweifelten Versuche, vor dem Ersten Weltkrieg die Gewerkschaften in den wichtigsten europäischen Ländern zu einem Bündnis gegen den Krieg zu vereinigen. Schließlich konnte seiner Überzeugung nach ein Krieg nur für die Kapitalisten ein Gewinn sein. Die Arbeiter (auch in den siegreichen Ländern) gehörten dagegen immer zu den Verlierern. Bei den deutschen Gewerkschaften stießen solche Friedensappelle kaum auf Zustimmung. In Frankreich schien Jouhauxs Anhängerschaft größer zu sein, doch als der Krieg dann ausbrach, siegte der Nationalismus über die internationale Solidarität.
 
Léon Jouhauxs Forderungen nach Abrüstung in einer Kommission des Völkerbunds und in dem 1927 erschienenen Buch »Le Désarmement« (französisch; Die Abrüstung), die er immer wieder vortrug, blieben erfolglos. Ungehört blieben zudem seine Aufrufe, dem Faschismus der 1930-Jahre entschiedener zu begegnen und die Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler zu beenden. So musste das Nobelpreiskomitee im Dezember 1951 einen Mann ehren, der seine Friedensziele nur zum Teil erreicht hatte — aber Léon Jouhaux war in dieser Beziehung bekanntlich kein Ausnahmefall.
 
P. Göbel

Universal-Lexikon. 2012.

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